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9. Dezember

Foto: Valentina Dietrich
Foto: Valentina Dietrich

Die Weihnachtsgans

 

Renate räumte die Küche auf, spülte das dreckige Geschirr und reinigte den Backofen. Sie war gerade fertig geworden, als es klingelte. Mit großem Hallo begrüßte sie ihre Tochter Jenny und ihren Schwiegersohn Matthias. Beide hatten eine lange Fahrt hinter sich und freuten sich auf einen gemütlichen Plausch am Kaffeetisch mit Mutters selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen.

„Hier riecht es ja so gut. Gibt es heute schon Gans?“, wollte Matthias wissen.

„Nein, ich habe nur heute schon alles vorbereitet, damit es morgen nicht so stressig wird. Die Gans muss ich dann nur noch mal eine Stunde in den Ofen schieben.“

„Ich kann es kaum erwarten. Auf das Gänseessen freue ich mich das ganze Jahr“, gab Jenny zu.

„Nun legt erst mal ab und bringt Eure Sachen nach oben. Dann gibt es Kaffee“, bat die Mutter.

„Wo ist denn Vati und wo steckt Waldi? Der hat uns gar nicht begrüßt“, wunderte sich Jenny.

„Der wird mit Vati noch im Garten sein. Du weißt doch, Vati hat immer was zu tun. Wahrscheinlich sorgt er für Vogelfutter.“

Als sich alle eine viertel Stunde später am Kaffeetisch im Esszimmer, das wie jedes Jahr weihnachtlich dekoriert war, eingefunden hatten, fehlte Waldi immer noch.

„Ich schau mal, wo der steckt“, Matthias ging über die Terrasse in den Garten und rief nach Waldi. Doch der vorwitzige Rauhaardackel meldete sich nicht. Matthias ging immer weiter in den Garten hinein und rief nach dem vierbeinigen Familienmitglied. Nach einige Minuten gab er es auf und kehrte ins Haus zurück.

„Ich kann Waldi nirgends finden. Es wird ihm doch nichts passiert sein“, gab Matthias zu bedenken.

„Das ist wirklich sonderbar. Normalerweise lässt er sich doch keine Mahlzeit entgehen, in der Hoffnung, dass etwas für ihn abfällt“, meinte die Mutter.

„Plätzchen mag er doch auch so gern“, erinnerte sich Jenny.

„Ich geh noch mal raus. Vielleicht ist er wieder hinter Nachbarskatze her“, lachte Vati.

Durch die Esszimmerfenster hörte man den Vater nach Waldi rufen. Es dauerte bestimmt fünfzehn Minuten, bis der Dackel endlich angetrottet kam. Er lief auffällig langsam und im Haus begab er sich sofort in sein Körbchen, ohne die neu eingetroffenen Familienmitglieder zu begrüßen.

„Was ist denn nur mit Waldi los? So kenne ich ihn gar nicht“, sagte Jenny traurig.

„Der wird schon wieder zu uns kommen. Wahrscheinlich ist er müde vom toben“, erklärte der Vater. Waldi war ja noch ein junger Dackel, sehr verspielt und sehr neugierig. Wahrscheinlich hatte der Vater recht. Alle widmeten sich wieder den Weihnachtsplätzchen und tauschten Neuigkeiten aus.

Waldi ließ auch seine Futterschüssel unangetastet und blieb schlafend in seinem Körbchen.

„Der ist auch ganz schön fett geworden“, stellte Matthias fest, als er den Dackel liebevoll streichelte. Waldi sah ihn nur müde an und seufzte.

„Der ist doch nicht fett“, entgegnete der Vater. „Der geht jeden Tag eine Stunde mit mir in den Wald.“

„Also, wenn Waldi ein weibliches Wesen wäre, würde ich sagen, sie ist trächtig“, meinte nun Jenny, die sich über den niedlichen Dackel gebeugt hatte. Waldi hatte sie nur müde angeschaut und ihr über die Hand geleckt. Normalerweise gebärdete sich der Dackel wie ein Wilder, wenn seine Familie zu Besuch kam und wich nicht einen Schritt zur Seite. Sein Verhalten erschien allen recht merkwürdig.

„Er wird doch nicht krank sein“, befürchtete die Mutter.

„Wenn es ihm morgen nicht besser geht, muss ich mit ihm zum Tierarzt gehen“, meinte der Vater.

„Und das ausgerechnet an Weihnachten.“ Die Mutter räumte den Tisch ab und alle zogen sich zurück. Waldi erschien auch nicht zum Abendessen. Er blieb in seinem Körbchen, schlief tief und fest. Sein Schnarchen war bis ins Esszimmer zu hören. „Er schläft den Schlaf der Gerechten“, meinte der Vater nur.

Waldi wollte auch nicht mehr Gassi gehen, bevor alle ins Bett gingen. Das war nun wirklich sonderbar. In der Nacht ging der Vater mehrfach hinunter in die Diele, wo Waldis Körbchen stand. Er fand den Dackel immer tief schlummernd vor, kein Anzeichen einer Krankheit. Dennoch machte sich der Vater große Sorgen um seinen treuen Gefährten.

Nach einer unruhigen Nacht fanden sich alle wieder am Frühstückstisch ein. Waldi war eine Weile durch den Garten gestreunt, hatte sogar seine Familie begrüßt, sich dann aber wieder in sein Körbchen zurückgezogen.

Als es schließlich klingelte und der Rest der Familie auftauchte, blieb Waldi stumm. Kein freudiges Bellen, tänzeln und winseln zur Begrüßung der neu eingetroffenen. Man ließ Waldi in Ruhe. „Vielleicht ist eine der Hündinnen in der Umgebung hitzig und er leidet“, meinte Basti, der Sohn des Hauses. Seine Jungs, Peter und Paul, saßen traurig am Kaffeetisch. Sie hatten sich schon darauf gefreut, mit Waldi Nachlauf zu spielen. Doch ihre Mutter Petra bat sie, den Vierbeiner in Ruhe zu lassen.

Waldi folgte dem Vater noch einmal nach draußen in den Garten. Auf seinen kurzen Beinen bewegte er sich nur sehr langsam. Sein Bauch schleifte fast am Boden. „Was hat der Kerl nur?“, fragte sich der Vater. Sein Fressen hatte Waldi auch verweigert. Er schlief den ganzen Tag. Aber er machte auch nicht den Eindruck, als ob ihm etwas weh tun würde. „Vielleicht hat er ein Kaninchen gerissen“, mutmaßte der Vater zur Beruhigung aller. „So wird es sein“, gab ihm Basti recht.

Nach dem Kaffeetrinken zogen sich die Männer zurück. Die Mutter ging in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Jenny und Petra deckten den Tisch im Esszimmer und legten die Geschenke unter den schön geschmückten Weihnachtsbaum.

Plötzlich hörte man die Mutter schreien. Jenny und Petra stürzten in die Küche. Sie fanden die Mutter an der Tür zum Garten. Sie stand offen. Auf dem kleinen Podest vor der Tür standen mehrere Töpfe und ein großer Bräter. Der Bräter war leer.

„Die Gans, die Gans“, stotterte die Mutter entsetzt. Jenny und Petra folgten der Spur des Gänsebratens in den Garten. Dort unterm Kirschbaum fanden sie das Gerippe der Weihnachtsgans. Fein säuberlich abgenagt. „Waldi“, hörten sie die Mutter nun rufen, „Du Sauhund.“

Waldi war nicht krank. Waldi hatte die Gans gestohlen und gefressen. Der Weihnachtsabend wurde trotzdem noch recht lustig. Anstelle des Gänsebratens gab es Frankfurter Würstchen zu Rotkraut, Knödel und Maronen. Alle waren froh, dass Waldi nicht krank war, sondern sich nur überfressen hatte.

 

Text: Jule Heck

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