
Das Missverständnis
von Jule Heck
Doris liebte es, ihr Haus zu jeder Jahreszeit besonders zu dekorieren. Für die Unterbringung des Dekorationsmaterials stand ihr ein kleiner Raum mit Regalen zur Verfügung. Dort hatte sie alle Utensilien fein säuberlich in beschrifteten Kartons untergebracht, so dass sie jederzeit die passenden Gegenstände hervorholen konnte.
Ihr Mann hatte sich schon immer lustig über ihr seltsames Hobby gemacht, zumal Doris ständig mit einer neuen Figur, einer kleinen Vase oder Dose von den verschiedenen Künstler-, Kreativ- und
Weihnachtsmärkten, die sie gern besuchte, nach Hause kam. Passend zur Jahreszeit besorgte sie dann noch frische Blumen, Kränze oder Topfpflanzen und Kerzen in jeder Größe, die über das Haus
verteilt wurden.
Doris mochte jede Jahreszeit, doch die schönste war für sie die Adventszeit. Hier bevorzugte sie besonders rote Farben zu dunklem Tannengrün und vielen kleine Lichter. Als ihre Kinder noch mit
ihnen im Haus lebten, hatten sie gemeinsam nach dem Totensonntag alle Fenster mit Lichterketten versehen. Die Leute blieben sogar auf der Straße stehen, um das festlich geschmückte Haus zu
bestaunen. Doch das war Doris nun zu aufwendig geworden. Stattdessen sorgte sie dafür, dass in den Räumen jede Ecke liebevoll gestaltet wurde.
Ihre Sammlung von Bozener Engeln in verschiedenen Größen und Farben bekamen einen besonderen Platz. Ihre Mutter hatte ihr jedes Jahr einen dieser wunderschön gestalteten Weihnachtsengel
geschenkt. Nach ihrem Tod hatte Doris sich selbst damit beschenkt.
Ihr Mann zog sie immer wieder damit auf und machte sich einen Scherz daraus, über das ganze Jahr hinweg ihre Leidenschaft für das Dekorieren zu trüben, indem er Dekoartikel versteckte oder
vertauschte. Plötzlich saß ein Osterhase in der Seifenschale, lagen die bunten Eier in den Blumentöpfen, oder hing ein Fischernetz das zur Sommerausstattung gehörte am Lampenschirm. Den
Leuchtturm fand man auf den Treppenstufen ins Obergeschoss.
Anfangs fand Doris das noch ganz lustig, doch irgendwann begann sie sich darüber zu ärgern und jedes Mal, wenn sich ihr Mann wieder einen seiner Scherze erlaubte, gab es große Diskussionen.
Besonders ärgerte sich Doris darüber, wenn er ihren Weihnachtswald, den sie liebevoll vor dem Esszimmerfenster aufgebaut hatte, zerstörte. Ständig lagen die Rentiere um oder die Beleuchtung der
Tannenbäume war ausgeschaltet. Richtig wütend aber wurde sie, wenn er einen ihrer Engel versteckte oder an einem Platz, der überhaupt nicht dafür geeignet war, platzierte.
Dieses Jahr nun hatte sie sich vorgenommen, auf die Dekoration zur Weihnachtszeit zu verzichten. Ihrem Mann fiel bereits nach dem Totensonntag auf, dass etwas fehlte. Doch Doris ging nicht auf
seinen Einwand ein. Die Rentiere und Engel, die Nikoläuse aus Holz und die goldenen Hirsche blieben in ihren Kisten, die kleinen Dosen und Teelichter, die Schnitzereien aus dem Erzgebirge ebenso.
Nichts erinnerte an die Adventszeit, kein Kranz an der Haustür oder ein Weihnachtsgesteck mit vier Kerzen, dass den Wohnzimmertisch zierte. Die niedlichen Rehe und Nikoläuse auf den Stufen des
Eingangs fehlten ebenso wie die vielen Laternen und Weihnachtssterne, die normalerweise über das ganze Haus verteilt waren.
Am ersten Advent holte Doris eine längliche Metallschale hervor, bestückte sie mit vier roten Kerzen und umgab sie mit Tannengrün. Dieser lieblose Weihnachtsschmuck fand seinen Platz auf dem
Esstisch. Jeden Morgen zündete Doris eine Kerze zum Frühstück an. Sie bemerkte, dass sich ihr Mann über ihr seltsames Verhalten wunderte, gab jedoch keine Erklärung dafür ab. Es wurde still im
Haus. Es gab keinen Streit mehr um die vertauschte Weihnachtsdeko. Beide saßen morgens stumm vor der Ausgabe der Tageszeitung und kauten lesend an ihrem Frühstück. Doch irgendwann wurde es Doris
Ehemann zu blöd. „Sag mal, willst du dieses Jahr nicht die Räume dekorieren? Wo sind denn deine schönen Engel und all die niedlichen Rentiere? Ich vermisse den Weihnachtswald und die vielen
Lichter und Kerzen? Bist du krank?“
„Es ist alles gut. Einen Tannenbaum brauchst du dieses Jahr auch nicht zu kaufen“, gab sie patzig zur Antwort. Obwohl es jedes Jahr endlose Diskussionen darüber gegeben hatte, ob der
Tannenbaum erst am Weihnachtstag aufgestellt und geschmückt würde oder schon einige Tage vorher, äußerte sich ihr Mann nun entsetzt. „Aber das geht doch nicht, wir können doch Weihnachten nicht
ohne Tannenbaum feiern. Unsere Kinder und die Enkelkinder werden traurig sein.“
„Das ist mir egal“, antwortete Doris traurig. „Ich bin deine blöden Scherze, die ewigen Streitereien leid, genau wie deine schlechte Laune, wenn du den Baum schmücken musst.“
Doris Mann war sprachlos. Es brauchte eine ganze Weile, bis er darauf antwortete. Tränen schimmerten in seinen Augen. Traurig sagte er: „Liebe Doris, das hast du völlig missverstanden. Ich habe
es doch niemals böse gemeint, wenn ich deine Engel versteckt oder die Rentiere umgelegt habe, genauso wenig wie all die anderen Gegenstände, die ich im Laufe des Jahres vertauscht habe. Ich
wollte doch nur, dass wir miteinander reden. Es ist so still im Haus geworden. Seit die Kinder nicht mehr da sind, haben wir uns kaum etwas zu sagen.“ Schließlich schaute er unter sich. Eine
Träne löste sich aus seinem Auge und fiel auf die Zeitung. Schluchzend sagte er: „Und außerdem bist du so süß, wenn du wütend bist.“
Nun war Doris sprachlos. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie begriff, was ihr Mann da gerade gesagt hatte. Sie stand auf, ging zu ihm und nahm ihn in die Arme. „Es tut mir so leid“, mehr brachte
sie nicht hervor. Sofort machte sie sich an die Arbeit, das Haus zu dekorieren. Dieses Mal übertraf sie sich selbst. Es dauerte nicht lange, bis sie den ersten Weihnachtsengel im Kühlschrank
fand. Doch dieses Mal schimpfte sie nicht, sondern lachte herzlich.
Projektleitung Adventskalender: Valentina Dietrich
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