
Eine kleine Träne kullert mir über die Wange. Eigentlich wäre ich jetzt mit meinen ziemlich besten Freunden in Lindau am Bodensee. Wir wären an diesem frühen Novembermorgen leicht übernächtigt auf der spätherbstlichen Uferpromenade entlang zur Inselhalle gelaufen. Dort hätte die jährliche Tagung der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie stattgefunden. Diesmal unter dem Motto „Vertrauen schaffen – Von Verunsicherung, Verrat und Verbundenheit“. Wir hätten uns unter die Zuhörer gemischt, alte Bekannte getroffen, vertraute Gesichter wiedererkannt und uns in dieser Fachgemeinschaft von Psychologen, Theologen, Pädagogen, Ärzten und anderen Interessierten aus dem psychosozialen Bereich auf den Tag einstimmen lassen.
Aber es ist anders, brutal anders. Ich fahre am ersten Tag des „Lockdown light“ meinen PC zu Hause hoch und logge mich in die fünftägige Online-Veranstaltung ein. Zur Einstimmung auf den Beginn der Tagung in einem dafür sehr befremdlichen Format erklingt die Bachkantate „Ich hatte viele Bekümmernis“. Etwas löst sich in mir. Ich kann mich auf die unmögliche Situation einlassen. Darauf, hier an meinem PC zu sitzen und nicht wie in den vergangenen Jahren zwischen meinen Freunden in der Inselhalle in Lindau. Die Referentin und Kinderpsychotherapeutin Margarete Leibig spricht davon, dass es heute vielen Menschen schwerfalle zu warten, sich „langsam einem Weg anzuvertrauen“. Sie plädiert dafür, der Hoffnung Raum zu geben, dass auf „dunkles Licht helles Licht folgt“. Auch wenn wir nicht wüssten, „wann“. Sie spricht von der Möglichkeit, die empirische Welt loszulassen. Für eine gewisse Zeit die Daten über Neuinfektionen, Erkrankungen und Todesfälle beiseite zu schieben und Trost zu suchen: in der Musik, in der Kunst und in inneren Bildern, mit denen wir die Beziehung zu Menschen lebendig werden lassen können, die uns jetzt so sehr fehlen.
Ich erinnere mich, wie ich mich vor zwei Jahren mit meinem Freund Richard über eine solche Imaginationsübung hier in Lindau ausgetauscht habe und wie schwer es uns beiden gefallen ist, spontan innere Bilder zu dem Thema „Meine Fähigkeiten“ zu entwickeln. Und wie wir uns gegenseitig darauf aufmerksam gemacht haben, dass es uns an Fähigkeiten nicht wirklich ernsthaft mangelt. Stoff zum Nachdenken und zum Austausch gibt es in Lindau immer mehr als genug. Denn hier geht es um Themen, die uns als Individuum und als Gesellschaft aktuell berühren, um Fragen, auf die wir auch in unserem Alltag Antworten suchen. Die Tagung 2018 stand unter dem Motto „Lust auf Zukunft“. Schon da wie auch dieses Jahr nahm das Thema Digitalisierung und was sie mit uns macht, breiten Raum ein.
Aber vor zwei Jahren lernten wir analog. Wir waren, wie man so schön sagt, mit Leib und Seele dabei. Was wir hörten oder uns in Seminaren erarbeiteten, begleitete uns in unserer „freien Zeit“. Wir sprachen darüber während unserer Spaziergänge am See, in den Cafés oder Weinstuben auf der malerischen Insel Lindau und beim gemeinsamen Essen in der Ferienwohnung. Es ist ein Geschenk, dass wir, die wir vor mehr als vierzig Jahren schon zusammen studiert und teilweise miteinander gewohnt hatten, vor einigen Jahren die Tagung in Lindau als gemeinsames Interessensgebiert entdeckt haben. Und dass wir diesem dann in fortgeschrittenem Alter so ähnlich nachgehen konnten wie unserem Studium in Marburg: hellwach, hochinteressiert und untereinander und mit der Sache emotional stark verbunden.
Diese Erfahrungen und diese Intensität in einer Lerngemeinschaft wird ein digitales Veranstaltungsformat niemals bieten können. Dieses Mal kommen wir damit zurecht und schalten uns jeweils nach den Vorträgen zu einer Videokonferenz zusammen. Manchmal mit einer Träne in den Augenwinkeln und immer in der Hoffnung, dass auf dunkles Licht helles Licht folgt.
Foto: Antje Lilienthal
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