
Zum ersten Mal haben wir die Radiokulturnacht der Bücher digital verfolgt und jede für sich. Morgen werden wir uns bei einem Spaziergang über die Veranstaltung im Rahmen der Frankfurter Buchmesse austauschen. Die langjährige Tradition, das Lese-Ereignis im HR Sendesaal in unserer kleinen Frauengruppe live zu erleben und es uns dabei mit Wein und leckeren Speisen gut gehen zu lassen, ist der Pandemie zum Opfer gefallen. Besonders schwer ist der Verzicht für meine Freundin Monika. Sie ist bei der Frankfurter Messe angestellt und seit dem Lockdown in Kurzarbeit. Das heißt, sie arbeitet einen einzigen Tag in der Woche – bis auf weiteres. Ihre Zukunft ist ungewiss. Die Buchmesse war für sie immer das Highlight des Jahres gewesen. Nun auch hier: der weitgehende Verzicht auf Publikumsveranstaltungen und Messebesuch fast ausschließlich digital. Das sei „bitter“.
Monikas Stimmung steht stellvertretend für die vieler Angestellte in der Messebranche, in Hotels und in Restaurants, bei denen der Besucherstrom dieses Jahr ausblieb und vielleicht nie wieder zu alten Zahlen zurückfinden wird. Der Hessische Hof – seit eh und je Fixpunkt für Messebesucher hat schon aufgegeben. Über allem schwebt die bange Frage, wer wird der Nächste sein.
Aber, eines bleibt: Es gibt neue Bücher, die in auch diesem trüben Herbst Trost und Gesprächsstoff versprechen. Einige davon stellten die bewährten Moderatoren Alf Mentzer und Catherine Mundt in der Radiokulturnacht der Bücher im Gespräch mit ihren Autoren vor. Zwei Bücher, die auf einer realen Geschichte beruhen und auch deshalb so aufzurütteln vermögen, sind mir besonders aufgefallen. Bei dem Roman „Was Nina wusste“ von dem israelischen Schriftsteller David Grossmann handelt es sich um die Lebensgeschichte, die eine Großmutter ihrer Tochter und ihrer Enkelin während einer gemeinsamen Reise auf die frühere Gefängnisinsel Goli Otok in Kroatien erzählt. Hier musste die damals junge Frau in glühender Hitze den sarkastischen Auftrag, eine Pflanze zu beschatten, ausführen. David Grossmann beschreibt, wie es ihr gelingt, unter den Augen der Aufseher an dem Wachstum dieser Pflanze Freude zu entwickeln. Im Interview hält der aus Jersusalem zugeschaltete Autor die innere Freiheit hoch, die auch einem Opfer bleibt. Da stockt mir doch der Atem, wo ich mich gerade durch die Corona-Hygieneschutzmaßnahmen in meiner Freiheit eingeschränkt fühle, diesen Abend mit meinen Freundinnen live zu genießen.
Ähnlich geht es mir mit dem Buch der diesjährigen Buchpreisträgerin Anne Weber. In „Annette, Ein Heldinnenepos“, erzählt sie die Lebensgeschichte von Anne Beaumanoir. Die Autorin hatte die heute 97jährige frühere bretonische Widerstandskämpferin vor einigen Jahren bei einer Lesung kennengelernt und sich mit ihr angefreundet. Gerade einmal 19 Jahre alt, rettete Anne Beaumanoir ausdrücklich gegen die Weisungen der kommunistischen Resistance zwei jüdische Jugendliche. 1959 wurde sie wegen ihres Engagements für die algerische Unabhängigkeitsbewegung zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Heute ist sie in Frankreichs Schulen lebendiges Beispiel für die Wichtigkeit des Ungehorsams.
Die eng mit Frankreich verbundene Autorin Anne Weber beschreibt die derzeitige Stimmung dort als schon seit einigen Jahren „deprimierend und beängstigend“. Durch Corona werde sich das sicher nicht verbessern. „Umso wichtiger ist ein moralischer Kompass, wie ihn die Hauptfigur Ihres Heldinnenepos liefert“, hält der Moderator Alf Mentzer dagegen. Das gilt sicher in Zeiten der Pandemie nicht nur für Frankreich. Ich bin gespannt auf die Gedanken, die meine Freundinnen von der digitalen Radiokulturnacht der Bücher zu unserem morgigen Spaziergang mitbringen.
Anne Weber aus Berlin ins Wohnzimmer übertragen (Foto: Antje Lilienthal)
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