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Martin Heß: It´s the Emotion, stupid!

Martin Heß (2020) Gargoyle
Martin Heß (2020) Gargoyle

 

Samstagnachmittag. Ich schreibe ein paar Gedanken auf und schaue mir nebenbei die Coronaleugner in Berlin im Livestream an. Noch immer ist dieses Phänomen ein lärmendes Rätsel und eine den Verstand beleidigende Provokation für mich, und ich fühle mich fast schon ein bisschen in meiner Berufsehre angefasst, dass mir für dieses offensiv irrende Verhalten noch keine besseren Erklärungen einfallen, als „kollektiver Wahn“ oder schlicht „Dummheit“. Klar, dem politischen Blick fallen als erstes diese Rechtsnationalen ins Auge, die offensichtlichen Pegida-Nachfolger, die wieder einmal versuchen, ihr faschistisches Süppchen auf zweifelhaftem Feuer zu kochen, die „Bewegung“ am Ende womöglich anzuführen und Skandalbilder zu produzieren wie „Nazis stürmen Reichstag“. Und es gibt da die Fraktion der klinisch psychiatrischen Realitätsverkennung, der Paranoia und des Wahns, ebenso wie die ideologisch fixierten und wissenschaftlich verblendeten und damit für die Allgemeinheit nicht ganz ungefährlichen „Impfgegner“ und „alternativen Mediziner“. 

 

Und doch trifft das noch nicht ganz den Kern der Sache, dieses groteske Behaupten  absurder Zusammenhänge, die nicht einfach nur falsch, sondern geradezu wahnwitzig sind und dabei einer Verschwörungsphantasie anhängen. Denn das ist es ja schließlich, was sie alle eint, von der kreischenden (Nicht-)Heilpraktikerin, die mit überschnappender Stimme und von allen guten Geistern verlassen die angebliche geheime Ankunft Donald Trumps in Berlin einer aufgebrachten Meute entgegenschrie und zum „Sturm auf den Reichstag“ aufrief, bis zum einfach ungebildeten und verängstigten Mitläufer: Sie sind sich einig, dass eine geheime Verschwörung die Welt beherrscht und ihnen Böses will. Dass dabei den Juden eine Hauptrolle zukommt, die angeblich Kinder schlachten und deren Blut trinken um sich zu verjüngen, ist ein paranoides vampirisches Leitthema im Antisemitismus seit dem Mittelalter. Es sieht allerdings nicht so aus, als sei das den heutigen Ver-Rückten bekannt, auf wessen Schultern sie da stehen. 

 

Sie laufen ohne Masken und Abstand – das war vorher klar und ist trotzdem kein Grund gewesen, die Veranstaltung zu untersagen – und drum wird der Marsch jetzt nach wenigen Stunden verboten. Lautsprecherdurchsagen sind zu hören. Demonstranten laufen mit Reichsfahnen durchs Bild. Sind wieder Nackige dabei? Die zeigten letztes Mal von diesem ganzen merkwürdigen Haufen ja noch am meisten „Mut“ und „Widerstand“ . 

 

Plötzlich heißt es, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe habe das Demonstrationsverbot der Berliner Polizei aufgehoben. Blitzschnell wird die für die Demonstranten so frohe Botschaft auf den entsprechenden Webseiten publiziert, auf YouTube-Kanälen und per Twitter verbreitet und von Rednern auf der Kundgebung euphorisch verkündet. Allgemeiner Jubel, und es wird weiter demonstriert ohne Masken, ohne Abstand natürlich, obwohl die Veranstaltung verboten, die Auflösung zuvor angeordnet worden war. Die Meldung war schlicht falsch. Ein Gerücht. 

Fakenews. Und mehr als zehntausend Menschen, die von sich selbst behaupten, besonders kritisch und prüfend gegenüber Wahrheiten zu sein – deshalb sind sie schließlich hier – glauben unbesehen und begeistert diese Lüge, bloß weil sie ihnen in den Kram passt. Noch heute ist die Falschmeldung auf zahlreichen Seiten und in allen einschlägigen YouTubes enthalten, wird noch immer verbreitet und – so muss man vermuten – auch geglaubt. Man kann darauf wetten, dass es auch diesmal eine große Menge an Menschen in diesen Kreisen geben wird, die an dieser nachweislich falschen Erzählung für immer festhalten werden, für die ist sie Realität geworden, losgelöst von allem, was wirklich passiert, dokumentiert, kommuniziert und akzeptiert ist. Sie leben in ihrer Welt und schaffen es auf irgend eine Weise, die echte Wirklichkeit, der sie ja nicht entgehen können und deren Existenz sie spüren, so zu behandeln, dass sie, die Geisterfahrer, als einzige auf der richtigen Spur sind und alle anderen in der falschen Richtung unterwegs.

 

So in etwa muss man sich wohl auch die psychologische Mechanik vorstellen, die derzeit im amerikanischen Wahlkampf zu sehen ist und deren sich das Wahlkampfteam des Präsidenten zur Betreibung seiner Wiederwahl bedient. Trump ist ein notorischer Lügner, das wissen inzwischen alle. Mehr als 20.000 Unwahrheiten und Irreführungen hat er im Laufe seiner vierjährigen Amtszeit von sich gegeben. „Notorisch“ ist das Verhalten deshalb zu nennen, weil er zwei Dinge in die Politik eingeführt hat, die man so zuvor noch gar nicht kannte, nämlich erstens die völlig sinnlose Lüge, an Punkten, wo es die Wahrheit genauso gut getan hätte, und zweitens die völlig sinnlose Lüge an Punkten, an denen die Wahrheit offen zutage lag und eigentlich gar nicht zu leugnen war. Eigentlich. Doch Trump hat die Verbindung zur Realität gekappt und mit seiner Killerphrase „Fakenews“ die Umwidmung der unbequemen Wahrheiten und seien sie noch so offensichtlich, zur Lüge vorgenommen. Das ist neu und das ist gefährlich. Inzwischen sehen wir: sogar brandgefährlich! Hannah Arendt hat geschrieben, dass menschliches Zusammenleben zerbricht, wenn es den Bezug zur Wahrheit verliert. Sie hatte dabei das Dritte Reich vor Augen. Doch diese Wahrheit stimmt auch heute.

 

Dass er das in dem tranceartigen, einer Besessenheit ähnelndem Flow seiner aberwitzigen Volksreden gemacht hat (mit denen er voll in der Tradition der gern „in Zungen“ redenden amerikanischen TV- und Sektenprediger steht) trifft in den USA mit Sicherheit auf ein gewisses Verständnis. Dass ihm das in Interviews unterläuft, unter Stress, finden die Leute noch irgendwie in Ordnung – er ist halt ein in der Wolle gefärbter „American Salesman“, sagt man sich wohl. Aber was wir beim Parteitag der Republikaner gesehen haben, der soeben zu Ende ging, hatte nochmal eine ganz andere, eine neue Qualität. Hier wurden bis ins letzte Wort von Spezialisten ausgefeilte Reden gehalten. Trumps war mit über 20 Unwahrheiten gespickt, Pences mit 19.  Der letzte Ton der Reden war noch nicht verhallt, da hatten die Fact Checker im Netz bereits alle Falschaussagen identifiziert und widerlegt. Das wussten die Redner und Redeschreiber vorher. Es war ihnen aber offensichtlich egal. Oder es war sogar Methode. Denn wenn niemand mehr irgendetwas glaubt, kann die Lüge nicht mehr von der Wahrheit unterschieden werden. 

 

Man kann sich diesen - gelinde gesagt  - losen Bezug zur Wahrheit, wie er bei Trump-Unterstützern und Coronaleugnern zu finden ist vielleicht so vorstellen, wie beim Wrestling-Zuschauer (so der Psychoanalytiker Stephen Grosz in der Financial Times): Jeder weiß, dass das Geschehen pure Show ist, aber alle benehmen sich, als sei es echt, feuern die Kämpfer an, ereifern sich. Und obwohl - oder weil? - es jeder weiß, handeln die Zuschauer in einer Art stiller Übereinkunft, nehmen die Lüge als Wahrheit und machen sich selbst zu einem aktiven Teil der Show. Warum?

 

Herr S. war ein gewitzter Lehrer an der ELS und er hatte seine Gründe, warum er uns einmal im Unterricht diese Aufnahme vorspielte, in der eine Zuschauerin bei einer Wrestling-Veranstaltung - damals sagte man noch „Catchen“ - einige Minuten lang zu hören war, wie sie zunehmend ausflippte, immer hysterischer wurde, mit mehr und mehr sich überschlagender Stimme sich in eine geradezu rauschhafter Aggressivität hinein steigerte und den einen Kämpfer schließlich anschrie, den anderen umzubringen. Das war beeindruckend, ist Jahrzehnte her und ich meine noch immer diese Stimme im Ohr zu haben und dazu S. herausforderndes Lächeln mit hochgezogenen Augenbrauen.

Da hat er mich erreicht. Das war großes Kino. Es ging um Emotionen! Es ging um Freude, Trauer, Wut und Angst. Nichts anderes. Aus dem Grund gingen wir damals ja auch jede Woche zum VfL ins Stadion und aus dem Grund rangierten Mädchen, Musik und Mokicks zu der Zeit ganz oben auf unserer Prioritätenliste und weniger die lineare Algebra.

 

Und es ging dabei immer auch um diese wichtige Unterscheidung zwischen „echten“ und „unechten“ Gefühlen. Ist diese Komposition, dieser Musiker, diese Band „kommerziell“ oder „authentisch“? Ein Eishockeyspiel ist weitgehend ein ehrlicher Wettkampf, die Emotionen sind echt. Wrestling dagegen ist eine Choreografie der Gewalt und will auch gar nichts anderes sein. Die Emotionen werden lediglich dargestellt und erreichen dennoch ihr Publikum. Der Wettkampf selbst ist simuliert. Aber die Fans schert das nicht. Sie haben trotzdem ihren „Spaß“: Ihre Wut-Lust ist echt. (In der Emotionspsychologie kennt man das Phänomen der „Angst-Lust“, die kleine Kinder zum Beispiel  beim Hochgeworfen-werden empfinden, als eine Kombination gegensätzlicher und daher besonders intensiv empfundener Emotionen). Aber macht das denn überhaupt einen Unterschied? Für einen gewissen Anteil von Menschen ist es schon immer eine zulässige Form der Selbstmanipulation gewesen, Glauben über die Realität zu stellen, um in sich bestimmte Emotionen zum Glühen zu bringen. Der Wrestling-Fan tut in stiller Übereinkunft für eine bestimmte Zeit einfach so, als sei die Darstellung echt und feiert sich mit seiner künstlich angefachten Wut durch die Veranstaltung. Im besten Fall kehrt er anschließend emotional gereinigt und regeneriert in seinen Alltag zurück. Ob das den Demonstrierenden genauso geht? Wahrscheinlich nicht. 

 

 

 

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