
Hunderte von Schafen sind vor uns auf dem Deich in Bewegung. Sie ziehen recht geschwind voran, als hätten sie ein Ziel. Einige Schäfchen lösen sich und wagen sich an die Nordsee. Was die paar Individualisten bewegt, eigene Weg zu gehen, erschließt sich uns nicht. Aber was die Herde da macht, kennen wir nur zu gut. Wenn viele losrennen, fällt es schwer, als Einziger stehen zu bleiben. An der defekten Fußgängerampel ist es so. Auch bei Abendgesellschaften folgen wir gerne einem Leithammel, der sich als erster verabschiedet. Und wenn einer bei der Suche nach einem Restaurant vorgeht, folgen ihm die anderen häufig nach. Unzählige weitere Beispiele lassen sich finden. Der Mensch ist ein Herdentier, obwohl er die Möglichkeit hat, selbst zu entscheiden und unabhängig von seinen Mitmenschen ein Urteil zu fällen.
Warum das so ist? Unser biologisches Erbgut sitzt tief. Von der Herde losgelöste Wesen wie unsere Schäfchen am Wasser bieten ohne den Schutz der anderen ein leichtes Angriffsziel und sind deshalb besonders gefährdet. Deshalb „wollen wir dazu gehören, nicht ausgeschlossen sein. Denn nicht zu einer Gruppe von Menschen zu gehören, hat in der Steinzeit unseren sicheren Tod bedeutet“, sagt der Göttinger Evolutionspsychologe Benjamin Lange. Deshalb geraten wir so schnell unter Druck, wenn wir in der Reise- oder Wandergruppe den Anschluss verlieren.
Demjenigen, der vorrennt, wird die bessere Informiertheit unterstellt. Wenn wir es ihm gleichtun, brauchen wir selber nicht mehr nachzudenken. Das ist sehr bequem. Gehirnleistung verbraucht sehr viel Energie, und sie wird im Gegensatz zu Affekten relativ langsam erbracht. Deshalb zieht es uns auch im Urlaub gerne dorthin, wohin es alle zieht. Denn dort muss es ja schön oder interessant sein.
Weil dieses Erbgut so tief sitzt und Corona mit seiner ganz besonderen Gefahr für Herden noch ein junges Virus-Pflänzchen ist, füllen sich die Badestrände, die Partymeilen, die historischen Altstädte und die Warteschlangen vor den Sehenswürdigkeiten nicht nur auf Mallorca. Nein, dieses Jahr sogar in dem sonst eher beschaulichen Ostfriesland, wo ich aufgewachsen bin und jenseits der Grenze im benachbarten Holland. Da können die Gemeinden noch so viel warnen. Da mag uns auf der niederländischen Autobahn Richtung Groningen noch so oft das Schild anspringen „Menschenmassen meiden“. Die Stadt ist im Zentrum am Grote Markt überfüllt. Auf den Fähren zu den ostfriesischen Inseln wimmelt es in Stoßzeiten an und unter Deck. Auch als wir am Deich die Schafherde hinter uns lassen und auf den bei Otto-Liebhabern bekannten rot-gelb gestrichenen Leuchtturm bei Pilsum zusteuern, treffen wir auf Menschentrauben. „Das haben wir noch nie hier gehabt“, kommentiert meine Schwester. „Dieses Jahr werden wir hier eine Art Hotspot, weil die Leute nicht mehr ins Ausland reisen.“ Ganz so schlimm ist es nicht. Und der mit dem Herdenverhalten verbundenen Corona-Gefahr können wir ausweichen. Wir finden noch die unberührte Natur, weil wir sie suchen. Und weil das für das Urlaubergehirn etwas anstrengender ist, sind wir hier auch allein. So wie die paar Schäfchen am Wasser.
Foto: Antje Lilienthal
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