
Das Wunder von Bad Nauheim
Marlene lag in ihrem Bett. Die Augen hatte sie geschlossen, ihr Brustkorb hob und senkte sich in gleichmäßigem Rhythmus. Sie sah friedlich aus. Nur die Beutel mit der klaren Flüssigkeit für die künstliche Ernährung verrieten, dass sie nicht einfach nur schlief, sondern ohne Bewusstsein war.
Nach einem Unfall hatte man sie in ein künstliches Koma versetzt, um ihr die Schmerzen zu ersparen. Alle Bemühungen, sie nach der Heilung der Frakturen, die sie sich zugezogen hatte, wieder aufzuwecken, waren bisher gescheitert. Die Ärzte vermuteten, dass der Schock, den sie durch den schrecklichen Unfall erlitten hatte, nicht zuließ, dass sie wieder aufwachte.
Ihre Mutter saß täglich stundenlang an ihrem Bett und las ihr Geschichten vor. Sie sprach mit Marlene, als würde die Tochter alles verstehen. Auch ihr Bruder und die Schulfreundinnen aus der St. Lioba-Schule besuchten sie häufig. Sogar die Eishockeyspieler der Roten Teufel des EC Bad Nauheim waren mehrfach an ihrem Bett aufgetaucht.
Marlene liebte Eishockey und besuchte normalerweise mit ihrem Bruder jedes Spiel, das im Colonel-Knight-Stadion von Bad Nauheim ausgetragen wurde. Zudem lief sie gern Schlittschuh und war öfter auf dem Eis anzutreffen.
Seit vielen Jahren war Marlene mit ihren Schulfreundinnen zum Weihnachtssingen in das Eisstadion von Bad Nauheim gekommen. Dieses Event ließ sie sich nie entgehen. Sie genoss das Zusammensein mit den vielen Menschen, die aus der Stadt und den umliegenden Ortschaften hierherkamen, um einige Tage vor Weihnachten gemeinsam bei Kerzenschein Weihnachtslieder zu singen und Spenden für einen guten Zweck zu sammeln.
In diesem Jahr würde das Weihnachtssingen ohne Marlene stattfinden. Die Familie und die Freunde hatten gehofft, dass Marlene an diesem Tag wieder genesen sei und dieses besondere Ereignis mit ihnen teilen würde. Sie wollten nicht akzeptieren, dass sie das Bewusstsein nicht wiedererlangte.
Deshalb ließen sich die Freundinnen etwas Besonderes einfallen. Sie wollten Marlenes Lieblings-Weihnachtslied im Eisstadion singen und alle Menschen in der Stadt auffordern, mitzusingen. Sie bereiteten Zettel vor, auf dem das Weihnachtslied von Marlene mit all seinen Strophen abgedruckt war. Den Liedtext verteilten sie an ihre Familien, Mitschüler, Freunde und Nachbarn. Zudem sprachen sie alle Menschen, die ihnen in der Stadt über den Weg liefen an und baten sie, an diesem besonderen Abend auf die Straße oder an das offene Fenster zu treten und mitzusingen. Sogar die Wetterauer Zeitung berichtete von dieser einzigartigen Idee. Ganz Bad Nauheim und die umliegenden Ortschaften waren informiert.
An diesem Tag hatte es stundenlang geschneit und über der Stadt lag eine weiße Haube aus pulvrigem Schnee. Die Lichter des Weihnachtsschmucks, der die Straßen der Stadt schmückten, zauberten eine festliche Atmosphäre.
Marlenes Mutter und der Bruder waren von der Idee der Freundinnen gerührt, die Mediziner begeistert. Als es nun soweit war, standen die Ärzte hinter der Mutter am Bett von Marlene.
Die Fenster der Wohnungen und Häuser in der Innenstadt von Bad Nauheim waren geöffnet, ihre Bewohner warteten auf das verabredete Zeichen. Auf den Straßen hatten sich Menschenschlangen gebildet, die durch den Park bis zum Eisstadion reichten. Die Autos hatten angehalten, ihre Fahrer waren ausgestiegen und gesellten sich zu den Menschen auf den Bürgersteigen. Aus den umliegenden Orten waren viele Neugierige gekommen, um das einmalige Schauspiel mit zu erleben.
Im Eisstadion herrschte freudige Erwartung. Jeder Sänger hielt eine Kerze in der Hand, deren Flamme leicht flackerte und den Liedtext beleuchtete.
Als nun das Weihnachtslied von den Freundinnen angestimmt wurde, erhoben sich tausende von Stimmen und sangen miteinander „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Wie eine Welle setzte sich der Gesang vom Eisstadion durch den Park, über die Straßen bis ans Bett des schlafenden Mädchens fort. Auch die Ärzte, Marlenes Bruder und Mutter sangen voller Innbrunst das bekannte Lied.
Nach der ersten Strophe bemerkte die Mutter, dass Marlenes Augenlieder zuckten. Während die zweite Strophe ertönte, bewegten sich ihre Finger über die Bettdecke. Als die letzte Strophe endete und die Stimmen des ungewöhnlichen Chores verstummten, wagte niemand zu sprechen.
In Marlenes Zimmer blickten alle erwartungsvoll auf die Schlafende. Plötzlich schlug Marlene die Augen auf. Blinzelnd sah sie in die erstaunten Gesichter der Anwesenden. Die Mutter lächelte ihre Tochter liebevoll an und strich ihr über die Wange. „Frohe Weihnachten, mein Kind“, sagte sie mit belegter Stimme. Tränen der Freude und Erleichterung kullerten ihr über die Wangen. Es dauerte eine Weile bis Marlene zu sprechen begann: „Ist denn heute schon Weihnachten?“ fragte sie, als sei es die normalste Frage der Welt.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die frohe Botschaft von der Rückkehr Marlenes in die reale Welt. Die Menschen klatschten begeistert, jubelten und fielen sich gegenseitig um den Hals. Eine fröhliche Stimmung breitete sich in der ganzen Stadt und im Eisstadion aus. Es war einfach unglaublich. So etwas hatte Bad Nauheim noch nicht erlebt. Alle freuten sich mit Marlene und ihrer Familie und wünschten sich gegenseitig ein Frohes Fest.
Als die Sänger das Colonel-Knight-Stadion verließen, die Menschenschlangen sich auflösten und alle durch die beleuchteten Straßen nach Hause strebten, begannen die Glocken der Kirchen in der Stadt zu läuten. Sie läuteten für das Wunder von Bad Nauheim.
Text: Jule Heck
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